Absatz 1


Katlynn stellte sich vor zu schweben. Komplett losgelöst von allem, ohne Sorgen. Sie konnte sich nicht zusammenreimen, was passiert war. Es kümmerte sie auch nicht, alles war total egal. Jedoch konnte sie das stechende Gefühl nicht abschütteln, dass sie etwas vergessen hatte. Was auch immer es war, sie konnte sich einfach nicht erinnern, Vielleicht wollte sie das auch nicht. Nicht einmal Farben schienen in diesem Moment relevant zu sein. Ihre Umgebung war praktisch nicht existent. Katlynn konnte nicht einmal feststellen, ob sie auf dem Boden stand oder lag oder was auch immer. Langsam holte sie Luft. Es war, als würde sie warmes Wasser einatmen, nicht auf die Art, als würde man ertrinken, nein, warme Wellen strömten auf angenehme Weise in ihre Lungen und breitete sich gleichmäßig in ihrem gesamten Körper aus. Sie entspannte total und ließ sich komplett sinken. Es fühlte sich gut an, ohne jegliche Probleme davonzutreiben. Das nagende Gefühl, etwas vergessen zu haben, verschwand trotzdem nicht. Was konnte es nur sein? Anstrengen, wenn auch nur mental, kam nicht in Frage. Es war praktisch unmöglich einen klaren Gedanken zu greifen und festzuhalten. Im Hintergrund fing etwas an zu summen. Schwache Vibrationen schlängelten sich durch ihren Körper. Plötzlich rammte sich ein schmerzhafter Stromschlag in ihre Brust. Katlynn riss die Augen auf und schrie erschrocken, nun hellwach. Du liebe Güte, hatte das wehgetan! Das Erste, was ihr in die Augen stach, waren ein Haufen Ärzte und Krankenschwestern, die wie aufgescheuchte Taschentücher aussahen, in ihren weißen Klamotten. Sie befand sich ganz sicher in einem Krankenhaus. Sie schaute sich genauer ihre Umgebung an und erkannte, dass sie in der Notaufnahme war. Wenn ihr Blick nach rechts wanderte, dann sah sie zwei Schränke, die mit allen möglichen Dingen vollgestopft waren. Zum Beispiel Medikamenten und Gerten wie Spritzen, Handschuhe und Zugängen. Daneben, noch an derselben weiß gekachelten Wand hing ein Waschbecken und darüber eine Packung Desinfektionsmittel, ein paar Hocker standen in wirrer Verteilung daneben in der Ecke, was sie zu dem Raumabschnitt vor ihr brachte. Das verwirrende an der Situation war, dass sie dem Anschein nach nicht auf dem Metalltisch lag, der ein paar Schritte vor ihr in der Mitte des Raumes stand. Katlynn stand hier einfach und schaute auf die Füße der Person die stattdessen darauf lag. Klobige Turnschuhe von Puma. Dieselben hatte Katlynn auch, vielleicht genauso alt und durchgetreten. Was tat sie hier? Sie schaute tranceartig nach links, wo sie zwei Fenster mit Lamellen-Vorhängen entdeckte. Zwischen ihnen ein leerer Röntgenschirm, nicht ganz. Auf der linken Seite hängte eine Krankenschwester gerade ein Bild von einem ziemlich entstellten Brustkorb auf. Die Rippen der Person waren ein einziges Schlachtfeld. In der linken Ecke wurschtelte ein Arzt an einem dieser rollkarren Schränken herum, an denen man so eine große, runde OP-Lampe dranhing, und schob diesen in die Richtung des Patienten, bevor er sie anknipste. Das helle Licht riss Katlynn aus ihrem Zustand. Was zur Hölle stand sie hier rum wie angewachsen?! Hektisch wandte sie sich um und erspähte einen kurzen Moment später die Eingangstür des Raumes direkt hinter sich. Sofort zwang sie ihre Füße zur Bewegung und wollte gerade die Tür aufstoßen, da lief eine weitere Krankenschwester an ihr vorbei und stieß die Tür selbst auf. Schnell schlüpfte sie hinterher, ohne die Tür auch nur anfassen zu müssen. Hinter ihr haute die Klapptür sofort wieder zu und für einen Moment war sie erleichtert, nur um gleich danach einen Herzinfarkt zu bekommen. Ein paar Meter von ihr entfernt saßen ihre erschöpft aussehenden Eltern auf hellblauen Plastikstühlen im Wartebereich der Notaufnahme. Sofort stürzte sie auf die beiden zu und blieb schlitternd vor den beiden stehen. „Mama! Papa!" Auf ihren Ausruf reagierte keiner der beiden. Zweiter Versuch. Katlynn stellte sich vor ihre Mutter und wedelte wild mit den Armen. „Mum, schau, es geht mir gut!" Woraufhin die blonde Frau zwar ihren Kopf bewegte, sie aber keines Blickes würdigte. Stattdessen schluchzte sie nur einmal geräuschvoll in ihre Hände. Der Anblick ihrer aufgelösten Mutter brach ihr das Herz. Ihre schönen Gesichtszüge waren verheult und ihre Schminke war verwischt. Das normale strahlende Blau von den Augen, die so groß und liebreizend waren wie sonst, war nun abgestumpft und matt. Die eigentlich seidigen Strähnen, die sonst ihr Herzförmiges Gesicht umrahmten, waren nun wild und zu einem chaotischen Zopf hochgesteckt worden, wo an einigen Stellen lose Strähnen heraushingen. Sie wirkte insgesamt älter, komplett ausgelaugt. Mit einem Seitenblick auf Katlynns Vater grub sich ein neues Brennen in ihre Eingeweide. Im ganzem sah er total normal aus. Mit gut gepflegten, kurz geschnittenen Haaren und seinem glatt rasiertem Gesicht wirkte er wie immer. Sein Gesicht war nicht lesbar und zeigte von außen eine Unbeteiligtheit, die man von einem Menschen nicht erwartete. Egal, ob er die Person kannte oder nicht, man würde normalerweise einen Funken Mitgefühl erwarten. „Dad?" Ohne sie auch nur zu bemerken, saßen beide in komplett verschiedenen Emotionsrastern und zwar sogar noch in Kleid und Anzug. Sie mussten direkt von dem Geburtstag ihrer Tante gekommen sein. Wer um alles in der Welt hatte dort auf dem Tisch gelegen? Ihre Tante? Nein, unmöglich, solche Schuhe würde diese Frau niemals anziehen. Dafür war sie sich viel zu edel. Alleine der Gedanken an ihre Tante mit alten Puma Schuhen hätte genügt, um sie zum Lachen zu bringen. Natürlich nicht im Anbetracht der Stuation. „Was.. ist passiert?" Sie richtete sich vor den beiden auf. Sie konnten unmöglich so sauer auf sie sein, dass sie sie mitten in der Notaufnahme ignorierten. „Hey!" Das war der Moment, wo das Auf und Zuklappen einer Tür sie herumfahren ließ. Ein ziemlichzierlich gebauter Mann mit schlaksiger Gangart kann genau aus dem Raum, aus dem sie vorher geflohen war. Er war in kompletter OP-Montur gekleidet, wodurch man nur seine Augen sehen konnte. Aus einer altmodischen runden Brille schaute er auf sein Klemmbrett. Heilige Scheiße, der Typ war kleiner als sie, und sie war gerade mal eins achtzig. „Sind sie die Eltern von der Verunglückten? Annabella und Robert Salz?" Die Eltern? Sie hatte doch gar keine Geschwister. Erwartungsvoll und verwirrt wartete sie darauf, dass ihre Eltern den Arzt auf diesen Fehler hinwiesen. „Ja, sind wir." Die sachliche Stimme ihres eiskalten Vaters verwirrte sie noch mehr. „Mum? " Sie richtete ihren Block jedoch nur kurz auf ihre Eltern. Der Arzt redete weiter, „Zu allererst will ich ihnen mitteilen, dass sie leben wird", woraufhin ihre Mutter ein halbes Würgen und gleichzeitig ein halbes Lachen ausstieß. „Aber?" ihr Vater, Robert, kniff die Augen zu dünnen Schlitzen zusammen. „Aber wie es aussieht, ist ihre Tochter in einem Koma artigen Zustand gefallen, wir sind uns nicht sicher, ob sie jemals wieder aufwachen wird." Woraufhin der dürre Typ betont langsam seine Brille abnahm und mit echtem Mitgefühl ihre Eltern anschaute und Katlynn dabei total ignorierte. „Es tut mir wirklich, außerordentlich Leid." Sobald der Satz zu Ende war, reagierte ihre Mutter mit einer Ohnmacht und fiel in ihre Richtung. Sofort riss Katlynn die Arme auf, um ihre Mutter aufzufangen wie ein Held, was sie jedoch nicht konnte. Annabella fiel einfach durch sie hindurch und ihr Vater griff durch ihren Brustkorb, um seine Frau am Arm abzufangen. „Scheiße!" Mit einem erschrockenem Schrei, einem Satz nach hinten aus ihren Eltern heraus und gleich in eine Topfpflanze, welche auch einfach nur in ihr stand, als wäre Katlynn Luft. Sie nahm einen Atemzug und schrie, taumelte in einem panischen Wanken-Stolpern vorwärts, wich dabei dem schlaksigen Arzt aus. „Oh Gott, Oh mein Gott." Katlynn taumelte verwirrt zurück zur Wand und stellte sich so dicht daran, ohne den kalten Marmor zu berühren. Das musste Einbildung sein! War sie vielleicht auf Medikamenten, und hatte seltsame Träume, während die ihr Splitter aus dem Gesicht zogen? Das musste es sein... oder? Denn das alles hier fühlte sich einfach krass real an. Vorsichtig zwickte sie sich in die Wange. Wirklich real. Mit einem hastigen Schritt nach vorne reckte sie die Hand nach dem Arzt aus, der ihrem Vater dabei halt, ihre Mutter sicher auf den Boden zu legen. Katlynns Hand ging einfach ihn hindurch. Oh... Gott. Wäre sie auf Drogen, wäre sie sich dann so real bewusst, dass sie träumen könnte? Nein, eigentlich nicht. Das wusste sie aus eigener Erfahrung. Sie schlich um die drei herum, als könnte sie gehört werden, blieb, aber ratlos vor der Tür zur Notaufnahme stehen. Sie schüttelte sich und stieß mit beiden Händen nach vorne um die Tür aufzudrücken, sie erwartete Wiederstand und keuchte auf, als sie einfach durch das robuste Eisen griff und keine zwei Sekunden später auf der anderen Seite auf den Boden klatschte, Gesicht voran. Was war passiert? Wo war sie noch einmal aufgewacht? Als Katlynn den Kopf hob, bekam sie erst einmal ein Knie durch ihr Gesicht. Ihre Laune sank nun in den Keller. Mit schweren Armen hievte sie sich vom Boden und beobachtete die Leute um sie herum. Wie auch vorhin schien das Krankenhauspersonal sie nicht wahr zu nehmen. Als wäre sie nicht existent. Schnellen Schrittes ging sie einfach um die immer noch arbeitenden Ärzte herum, um einen Blick auf die Gestalt auf der Liege werfen zu können, blieb dann einfach stehen und starrte auf diesen einen Punkt. Sie kniff sich zweimal so heftig, dass ihr Tränen in die Augen traten. Schloss die Augen und zählte bis zehn. Doch als sie die Augen wieder öffnete und keinen Unterschied an der Situation bemerkte, rutschte ihr Herz mit allen anderen Organen in ihre Hose. Sie hielt für eine Weile lang die Idee, es wie ihre Mutter zu tun und einfach in Ohnmacht zu fallen, eine eigentlich angebrachte. Gott möge ihr beistehen. Es war sie persönlich die dort lag. Mit einem blutigen, inzwischen verdreckten und orangenem (beziehungsweise blutigem) Sommerkleid, ohne Lederjacke (wer weiß, wo die war) und mit alten Puma Schuhen, die so verdreckt wie waren wie ihr Kleid lag sie da vor sich auf dem kalten Metall. Naja, ihr Körper lag dort. Katlynn musterte ihr zerschrammtes Gesicht und schaute in die friedlichen Züge ihres Körpers. Ihre Arme und Beine sahen aus wie gewirbelt, sie waren auf eine Art und Weise verdreht, die so nicht sein sollte. Überall waren blutige Schrammen und Blutergüsse zu sehen. Man hatte sie mit einer Beatmungsmaschine verbunden, das rhythmische Pumpen des Gerätes schien ihr einziger Fokus zu werden. Man hatte sie dort angeschlossen, weil ihre eigene Lunge nicht mehr funktionierte. Eine elektrische Lunge im Austausch gegen ihre eigene. Mit einem geräuschvollen Husten wandte sie den Blick zum Röntgenschirm, Gott, sie hatte so viele gebrochene Knochen. Rasselnd holte sie Luft und blickte auf ihren zerfetzten Körper nieder. Es hatte etwas Poetisches an sich, so auf sich selbst zuschauen nach einem Autounfall. Nein wirklich, beinahe kam sie in Stimmung dazu, Gedichte aufzusagen. Eine junge Frau in Krankenschwesternaufmache ging einfach durch sie durch und fing an, an ihrem Körper rumzufuchteln. Vermutlich würden sie ihren Körper reinigen und dann eingipsen. Sie in ein kleines Zimmer schieben und sie dort versauern lassen, bis man entweder entschied, dass man sie ab stöpselte oder man sie alt werden ließe, bis sie starb. Die Sicht vor ihr fing an zu verschwimmen und sie merkte, dass heiße Tränen ihre Wange nieder rollten. Erst eine, dann immer mehr. Katlynn würgte einen Klagelaut hervor, bevor sie komplett zusammenbrach. Sie schrie und weinte, rollte sich einfach mitten im Raum ein wie ein Fötus, bevor sie in eine Ecke robbte und dort weiter weinte. Sie weinte solange bis sie heißer war und keine Tränen mehr hatte, weinte bis ihre blasse Haut, welche hätte brauner sein können, rot und fleckig war. Sie weinte vor Trauer und vor Angst. Sie wollte nur aufwachen. Zurück in ihren Körper um bei ihren Eltern sein zu können. So blieb sie stundenlang in der Ecke liegen, selbst als sie keine Tränen und Laute mehr hatte. Sie blieb dort liegen und starrte ihren Körper an, als könnte das, sie aus diesem Albtraum wecken. 

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